Nino Kerl ist eine der festen Größen zwischen Gaming, Anime und Influencer-Kultur. Seit zwanzig Jahren berichtet er über japanische Popkultur. Zunächst als GamePro-Journalist, heute mit Ninotaku TV als Stimme einer Community, die längst kein Nischenthema mehr ist.
Auf der Polaris in Hamburg zeigt sich, wie sehr Kerl diese Szene prägt: Er kuratiert eine eigene Bühne, füllt sie stündlich und trifft eine Fanbasis, die Anime ebenso feiert wie die Nähe zu ihm.
Von "winzig" zu voll: Kerls Polaris-Bühne im Fokus
Die Polaris ist ein Hybrid aus Gaming und japanischer Popkultur - Kerls Bühne hat sich seit der ersten Ausgabe zu einem Ankerpunkt entwickelt.
"Die war im ersten Jahr winzig und ist jetzt wirklich groß", sagt er. 400 Plätze, stündliches Programm, volle Reihen: Ein Setup, das er komplett selbst verantwortet - und genau so haben will.
"Ich habe tatsächlich 100 Prozent Entscheidungsfreiraum. Darauf habe ich mich gleich zu Beginn mit den Verantwortlichen geeinigt. Erfahrungsgemäß ist es oft schwierig, wenn das fremdgesteuert wird - das habe ich jahrelang auf der gamescom gemacht. Das ist nicht negativ gemeint, aber ich fühle mich wohler, wenn ich weiß, was mich erwartet."
Mehr Arbeit sei das, sagt er, schwieriger als sich ins gemachte Nest zu setzen. Aber: "Ich bin sehr pedantisch und plane das von der Pike an, mit viel Vorlauf, damit es möglichst wenige Unsicherheitsfaktoren gibt: in der Running Order, in der Planung, mit den Gästen."
Team, Nähe, Atmosphäre - Warum die Polaris für ihn anders ist
Planung ist das eine - Atmosphäre das andere. Was macht für ihn den Reiz der Polaris aus?
"Das Team. Die Menschen, mit denen ich das Jahr über zu tun habe - sie sind freundlich, engagiert, leidenschaftlich. Und die Community. Das ist schlussendlich die Hand, die mich füttert. Es ist toll, diese Menschen zu treffen. Das ist kein Polaris-exklusives Phänomen, das gilt für alle Conventions. Aber gerade hier herrscht eine familiäre Atmosphäre - es ist etwas sehr Besonderes, die Leute mal zu sehen."
Leipzig, Köln, Hamburg - und Kerls klare Präferenz
Der Blick auf die Polaris bleibt nicht ohne Vergleich zur größten Bühne des Landes: der gamescom. Kerl kennt die deutschen Gaming-Messen gut. Und für ihn gibt es einen deutlichen Unterschied:
"Ich gehöre noch zu der Generation, die auf die Vorgängermesse der gamescom, die Games Convention in Leipzig, gefahren ist", sagt er. "Da ging's primär ums Gaming. Giveaways waren nicht so verbreitet. Man war schon stolz, wenn man als Bub mal einen Kugelschreiber oder ein Lanyard bekommen hat."
„Früher als Veranstaltung für dicke Keller-Nerds abgestempelt, heute für den Querschnitt der Gesellschaft.“ (Nino Kerl über die Macht der gamescom und wie sie das Bild von Gamern verändert hat)
Trotzdem betont Kerl: "Die gamescom ist eine coole Veranstaltung." Die Entwicklung, dass Gaming massenkompatibel geworden ist, findet er gut: "Früher als Veranstaltung für dicke Keller-Nerds abgestempelt, heute für den Querschnitt der Gesellschaft."
Nur für ihn persönlich sei die Messe zu groß geworden. "Ich mag die kleineren, nischigeren Conventions lieber - AnimagiC in Mannheim oder die Polaris. Es ist übersichtlicher, die Themengrenzen verschmelzen nicht so. Hier bei mir geht's um japanische Popkultur; bei der gamescom ist alles, volle Kanne, und Hunderttausende Menschen."
Moderatoren benötigte man dort kaum mehr, sagt er: "Du brauchst auf der gamescom niemanden, der moderiert oder mit einem Gast spricht, dem man zuhören soll."
Genau das ist aber das Konzept von Kerls Bühne: Zeit und fokussierte Gespräche statt Animationsshow.
"Ich habe damals das offizielle gamescom-Format konzipiert und moderiert - war damit sehr happy. Privat gehe ich bestimmt wieder hin, es ist wie ein Klassentreffen. Jobmäßig muss ich's nicht mehr unbedingt machen."
Vom Exoten zum Massenmarkt
Dass sein Konzept aufgeht, zeigt sich direkt an der Bühne. Obwohl Kerl "nur" ein Animequiz für zwei Leute auf der Bühne macht, ist es rappelvoll. Die 400 übertrifft er problemlos. Warum?
"Ich glaube, das liegt schon an der Anime-Zielgruppe. Das ist halt eine wahnsinnig friedvolle, respektvolle, rücksichtsvolle Community. Die haben einfach Bock. Und natürlich kennt mich da der eine oder andere auch und weiß: Okay, das macht im Zweifel Spaß mit dem Nino und da kommen wir hin."
Und wer so viele Menschen anzieht, landet automatisch bei der Frage: Ist Anime eigentlich noch Nische?
"Als ich mit Ninotaku anfing, war das in Deutschland Nische. Inzwischen haben wir eine Anime-Infrastruktur mit unzähligen Streaminganbietern, bei denen man für kleines Geld auf legalem Wege nahezu alle aktuellen Anime-Serien sehen kann. Das war vor zehn Jahren undenkbar."
Wie aus Popkultur-Berichterstattung Ninotaku wurde
Anime sei heute Mainstream, sagt Kerl - aber seine eigene Entwicklung verlief fließend. Ein Bruch zwischen Gaming- und Anime-Welt existiere für ihn nicht. Seine eigene Rolle darin sieht er weniger spektakulär.
"Hör auf jetzt", sagt er halb geschmeichelt, wenn ich ihn als "den" Anime-Journalisten bezeichne. Den großen Sprung habe es nie gegeben. Anime sei schon beim Radio im Allgäu sein Thema gewesen; bei der GamePro habe er alles betreut, was aus Japan kam - von Final Fantasy bis One Piece oder Dragon Ball. Aus dem Popkulturkanal High5 wurde schließlich Ninotaku, sein monothematischer Kanal für japanische Popkultur.
„Ich will niemanden mimen, der ich nicht bin.“ (Nino Kerl)
Und wie wurde aus dieser Entwicklung schließlich "der" Anime-Journalist?
"Das war dieses klassische 'Vom Hobby zum Beruf'. Ich bin meinem Stil und meiner Herangehensweise treu geblieben und habe versucht, mich möglichst nicht nach irgendwelchen Trends zu richten oder mich einer Sprache anzupassen, die jetzt gesprochen wird." Digger, gottlos, fühle ich oder Ehrenmann werde man von ihm nicht hören.
"Ich will niemanden mimen, der ich nicht bin. Ich sehe mich nicht wirklich als Influencer. Natürlich bleibt der Personenkult nicht ganz aus, durch Social Media und Ähnliches. Das, was ich gerne und leidenschaftlich mache, ist redaktionelle Berichterstattung, also Journalismus."
Den übt er hauptsächlich auf seinem Kanal auf YouTube und anderen Plattformen aus. Kerl ist dafür ein Beispiel, dass im Gaming und eSport beruflich viel möglich ist: unter Vertrag bei Webedia als Creative Director, gleichzeitig aber "selbstständiger Angestellter".
Ninotaku TV betreibt er in Eigenregie für den Konzern, dazu moderiert er Events wie die Polaris, führt durch Klassikkonzerte und schreibt Bücher - ein Jobprofil zwischen Redaktion, Bühne und Selbstständigkeit.
"Das alarmiert mich" - Kerls Blick auf Influencer
Wie sieht er die andauernde Entwicklung, das große Wachstum des Influencertums? Kerl ist schließlich beides: Persönlichkeit und Journalist.
"Es ist komplett anders geworden. Mich alarmiert, wie viel Macht Menschen im Internet haben - schon mit geringer Reichweite -, weil Dinge zu selten hinterfragt werden. Wenn jemand mit Reichweite These XY aufstellt, nehmen das viele als Fakt wahr, weil es als Fakt dargestellt wird. Oft wird eine eigene Wahrheit erfunden, die dann Eigendynamik entwickelt." Was fehlt seiner Meinung nach?
„Oft wird eine eigene Wahrheit erfunden, die dann Eigendynamik entwickelt.“ (Nino Kerl)
"Mehr hinterfragen, selbst recherchieren, andere Blickwinkel. Vieles wird nur paraphrasiert oder gecopypastet - gefährliches Halbwissen." Und der Journalismus?
"Es ist unsere Aufgabe, das besser zu machen. Gleichzeitig siehst du, dass mit Clickbait gearbeitet wird, dass viel polarisiert wird. Mit unaufgeregten Titeln kriegst du fast keinen mehr zum Klicken; du brauchst immer einen Hook. Schade, aber inzwischen üblich."
Gibt's sonst noch etwas zu sagen?
"Ja, ich würde mir wünschen, dass der 1. FC Kaiserslautern endlich wieder in die erste Liga aufsteigt. Das wäre mir noch sehr, sehr wichtig. Der Betze gehört in Liga 1."