Hast du eigentlich Angst? Mein Kollege Carlo Wild stellt mir diese Frage in jener denkwürdigen Nacht vom 13. auf 14. November 2015, als wir durch die weitgehend verwaisten Straßen von Paris marschieren. Ständig durchdringen Sirenen der Polizeifahrzeuge die Stille, jedes vorbeifahrende Auto und jeder entgegenkommende Fußgänger wird von uns misstrauisch beäugt. In den vorangegangenen vier Stunden waren wir im Stade de France dem Terror so nahegekommen wie nie zuvor in unserem Leben. Jetzt haben wir nur noch das eine Ziel, die knapp sechs Kilometer lange Strecke bis zum Gare du Nord schnell und unbeschadet zu absolvieren und in unseren Hotelzimmern wieder das Gefühl von Sicherheit zurückzuerlangen.
Wann wird aus Unbehagen Angst?
"Nicht wirklich", entgegne ich und bin mir nicht sicher, ob ich mir da nicht etwas vormache. Bis zu welchem Grad ist Unbehagen Unbehagen, Unsicherheit Unsicherheit, Ungewissheit Ungewissheit? Und wann beginnt Angst? Wir haben wie jeder der rund 80.000 Augenzeugen dieses Länderspiels zwischen Frankreich und Deutschland den ungewöhnlich lauten Knall gehört, ohne ihn als erste von drei Explosionen vor dem Eingangsbereich der Arena zu identifizieren. Unsere Augen wandern mit zunehmender Dauer immer häufiger vom Spielfeld weg aufs Handy, auf dem ungewöhnlich viele Nachrichten aufleuchten und der Blick ins Internet allmählich die ganze Tragweite dieser Pariser Terrornacht offenlegt.
130 Tote werden nach diesen koordinierten, islamistisch motivierten Attentaten an fünf verschiedenen Orten gezählt: Konzertbesucher im Bataclan-Theater, Gäste in Bars, Cafés und Restaurants, ein Mann vor dem Stade de France. Weitere 683 Personen werden verletzt, darunter mindestens 97 schwer. Dass es im Stadion nicht zu einem verheerenden Blutbad kommt, ist den Ordnungsdiensten an den Eingängen zu verdanken, die den mit Tickets ausgestatteten Selbstmord-Attentätern den Zutritt verwehren. Doch ob es ein Attentäter doch ins Stadion schaffte oder draußen weitere Anschläge drohen, bleiben lange offene Fragen.
Und dieses beklemmende Gefühl der Ungewissheit und in gewisser Weise auch der eigenen Hilflosigkeit, das einen in diesen Stunden verfolgte, werden die meisten vermutlich nicht mehr vergessen. "Versteck dich auf dem Klo", hatte die Tochter meines Kollegen geschrieben. "Nehmt bloß nicht die Metro", ruft uns Kollege Frank Lußem aus der Heimat zu. Gerade das hatten wir vor, als wir uns nach Mitternacht entscheiden, dass wir nicht wie Joachim Löw und seine Mannschaft, und wie auch einige Kollegen, im Stadion übernachten. Doch die Metrostation ist gesperrt, ein Taxi weit und breit nicht in Sicht - deshalb der Fußmarsch.
Als wir am Gare du Nord eintreffen, haben nahezu alle Lokale geschlossen. Wir bekommen noch in einer Bar ein Bier und besprechen, wie wir über die Ereignisse und das Spiel am nächsten Tag berichten wollen. Klar ist: Eine Benotung der Spieler wird es im kicker diesmal nicht geben. Die Politiker hierzulande und auch die führenden Köpfe der Fußball-Verbände waren sich nach den Anschlägen sehr schnell einig, dass Zeichen der Gemeinschaft notwendig seien und das klare Signal, sich nicht vom Terror einschüchtern zu lassen.
Ein klares Signal, aber nicht im Sinne der Spieler
So jedenfalls begründeten die Protagonisten um den damaligen Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff und den als DFB-Interimspräsidenten fungierenden Reinhard Rauball den Entschluss, wie geplant nur vier Tage nach dem Paris-Massaker in Hannover zum Länderspiel gegen die Niederlande antreten zu wollen - Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Minister hatten als Zeichen der Solidarität ihr Erscheinen angekündigt.
Dass man damit den Spielern sehr viel, vielleicht auch zu viel zumuten wollte und zudem gegen deren Willen handelte, verdeutlicht das Interview (k+) mit dem Freiburger Profi Matthias Ginter, der bemerkenswert offen und reflektiert über seine Terror-Erfahrungen und deren Verarbeitung spricht.
Bekanntlich verhinderte eine Bombendrohung, dass die Partie in Hannover angepfiffen und die Spieler in persönliche Grenzbereiche geschickt wurden. Zumindest für den Moment innehalten ist kein Ausdruck von Schwäche und möglicherweise sogar das viel stärkere Zeichen, als auf Teufel komm raus in Extremsituationen dem Terminplan oberste Priorität einzuräumen und Normalität vorzuspielen, wo es aktuell keine Normalität gibt.
Dass die Profis von Borussia Dortmund im April 2017 nur einen Tag nach dem Sprengstoffanschlag auf sie in ihrem Mannschaftsbus zum Champions-League-Achtelfinale gegen AS Monaco (2:3) antreten mussten, war mit Blick auf die Beteiligten - oder besser Geschädigten - ein geradezu groteskes Diktat. Und darf sich in dieser Form auch nie wiederholen. Unabhängig davon belegen beide Anschläge, dass der Fußball wie nahezu jeder Bereich des gesellschaftlichen Lebens nicht davor sicher sein kann, von verblendeten Gewalttätern mit unterschiedlichsten Motiven angegriffen und missbraucht zu werden.
Sicherheitskonzepte sind elementar für ein gutes Gefühl im Stadion
Aber deshalb auf das Gemeinschaftserlebnis eines Fußballspiels, eines Konzerts oder auch des Besuchs eines Weihnachtsmarktes verzichten? Das wäre in puncto Lebensfreude und -qualität ein sehr großes Opfer und bei objektiver Betrachtungsweise auch ein überhöhter Preis. Denn Anschläge und Attentate haben in den vergangenen Jahren zwar leider rapide zugenommen, sie werden aber in den meisten Fällen dort ausgeübt, wo Täter einen vergleichsweise leichten Zugang haben. Ausgefeilte und umfassende Sicherheitsvorkehrungen, die immer wieder überprüft, angepasst und konsequent umgesetzt werden müssen, sind daher unvermeidlich und elementar, um auch weiterhin mit einem guten Gefühl ins Stadion gehen zu können.
Immerhin unter diesem Gesichtspunkt war die schreckliche Nacht von Paris, in der wenigstens im Stade de France das Sicherheitskonzept sieben Monate vor der Europameisterschaft 2016 in Frankreich seine Generalprobe bestand, bei aller Tragik der Anschläge sogar ein ermutigendes Zeichen.