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Taktik-Analyse: 7 Gründe für Lemgos starken Saisonstart

kicker

Eine Kolumne von Jörg Lützelberger

Beeindruckende Spieldisziplin

Alle Teams im Spitzenhandball orientieren sich seit geraumer Zeit an statistischen Kenngrößen. Der TBV Lemgo Lippe bringt diese auch auf die Platte. Würfe aus dem Rückraum ohne erhobenen Arm der Referees oder ablaufende Spieluhr sind ebenso Mangelware wie riskante Anspiele - etwa an den Kreis. Das führt nicht nur zu längeren Angriffen, besseren Abschlusspositionen und einer höheren Angriffs-Effizienz, sondern stellt auch die Grundlage für das erfolgreiche Rückzugsverhalten dar.

Positives Gegenstoß-Rating

Im eigenen Rückzug wenig zulassen und selbst in 60 Minuten fleißig und diszipliniert Umschaltsituationen nutzen, um mehr Tore, Siebenmeter oder Zeitstrafen zu erspielen als der Gegner - das ist der Plan und der ging bisher oft auf. Mit angepasstem Tempo wird der Ball nach vorne gebracht, denn der Angriffsversuch aus der Abwehr heraus stellt eine zusätzliche Angriffsmöglichkeit dar, die nicht der Zeit für den eigentlichen Angriff angerechnet wird.

Fehlt ein Verteidiger oder ist schlecht positioniert, ziehen Lukas Hutecek oder Tim Suton das Tempo wieder an und nehmen so ohne bedingungslosen High-Speed-Handball trotzdem wertvolle Vorteile mit. Auch hier sind die hohe Ballsicherheit und Disziplin der Spieler entscheidend. Unnötige Risiken für technische Fehler sind selten zu beobachten. Schließlich ist noch viel Zeit für den eigentlichen Angriff.

Variabilität und Moderne in der Offensive

Im Wesentlichen sind es drei unterschiedliche Systeme, in denen Kehrmann angreifen lässt. Das altbekannte mit drei Rückraumspielern. Das immer beliebtere System mit vier Rückraumspielern, das Hutecek und Suton als zweikampfstarken Angreifern im Rückraumzentrum liegt. Und das System mit sieben Feldspielern. Hier erkennt man tatsächlich eine Entwicklungstendenz, die noch nicht so verbreitet ist.

Trotz Überzahl gehen alle Lemgoer Rückraumspieler sehr geschickt Eins-gegen-Eins und verbinden Elemente des Gleichzahlspiels mit den Vorteilen der Überzahl. Diese Elemente funktionieren umso besser, je defensiver und gebundener die Verteidiger sind, wie die Rhein-Neckar Löwen zuletzt schmerzlich erfahren mussten. Unabhängig vom gewählten System zielt das Team auf die erfolgswahrscheinlichsten Abschlusspositionen im Durchbruch und von Außen ab.

Der Kreis wird in aller Regel nur aus dem Zweikampf des Ballführers heraus angespielt, was in den meisten Fällen zu einem Freiwurf führt, sollte der Pass sein Ziel nicht erreichen. Häufiges Nebenprodukt der genannten Wurfpositionen sind Strafwürfe, die Nils Versteijnen zuverlässig verwandelt.

Kompaktheit und Beständigkeit in der Defensive

Die 6:0-Abwehr hat in Lemgo große Tradition und wird von der Kehrmann-Sieben sehr beweglich und vor allem kompakt interpretiert. Mit hoher Zweikampfqualität und präzisem Helferverhalten der Halb- und Außenverteidiger müssen die Innenverteidiger stets nur so offensiv in den Raum, wie es in der jeweiligen Situation nötig ist, um eine Isolation oder ein Zwei-gegen-Zwei gut vorbereiten zu können. Lange Angriffe der Gegner sind genauso häufig das Ergebnis wie Würfe aus dem Rückraum, breite Durchbrüche oder riskante Kreisanspiele.

Frederik Simak und Hendrik Wagner erfüllen ebenso wie die Neuzugänge Adam Nyfjäll und Joël Willecke die Anforderungen an moderne Innenverteidiger. Für die Vielzahl an dynamischen Zweikampf-Auslösungen bringen alle vier nicht nur Kraft und Reichweite für den Kampf mit Kreisläufern, Blocks und Anspielen auf die Platte, sondern auch die notwendige Schnelligkeit auf den Beinen.

So hat der TBV bisher auf die verschiedensten Angriffsbemühungen der Gegner die immer gleiche konsistente Antwort und erspielt neben einigen Ballgewinnen vor allem zahlreiche Rückraumwürfe und breite Durchbrüche - zur Freude der eigenen Torhüter.

Und auch wenn es mal nicht läuft, vertraut Florian Kehrmann seinen Spielern und seiner Abwehr-Strategie. In Hamburg lag sein Team 15 Minuten vor Ende mit 5 Toren zurück. Trotz High-Scoring-Game und wenigen Paraden wird am Abwehrsystem nicht gerüttelt. Ballgewinne und Paraden kommen, der Ausgleich fällt Sekunden vor dem Ende. Beständigkeit wird belohnt.

Cleverness und Ruhe

In Zweikämpfen, bei Einläufern, bei Durchbrüchen oder Kreisanspielen, gleich ob als Angreifer oder Verteidiger: Hutecek, Suton, Simak und Co. haben ein wahnsinnig gutes Gespür für Kontakte, Momente und Situationen. Ihre Körpersprache und auch die direkte Kommunikation mit Gegenspielern und Referees ist von besonderer Cleverness und Reife geprägt.

Verteidiger erkennen gezielt Situationen, in denen es von Vorteil ist, die Arme wegzulassen und stattdessen ein Offensiv-Foul zu ziehen oder den Wurf zuzulassen. Viele TBV-Spieler sind auf dem besten Weg, ein ähnlich ausgebufftes Schlitzohr zu werden wie einst ihr Trainer. Zudem beruhigt Kehrmann in Time-Outs immer wieder die Gemüter seiner Jungs und strahlt selbst genau diese Ruhe an der Linie aus.

Breite und Flexibilität des Kaders

Kehrmann entwickelt Rollen- und Positionsprofile und nutzt die Potenziale jedes einzelnen Spielers. Viele Positionen werden so als Gespann noch wertvoller. Constantin Möstl und Urh Kastelic im Tor oder Nils Versteijnen und Nicolai Theilinger im rechten Rückraum und auf der Halbverteidiger-Position teilen sich ihre Aufgaben bisher sehr erfolgreich. Hutecek und Suton tragen große Verantwortung im Angriff und geben sich gegenseitig defensiv ausreichend Pausen.

Gleichzeitig kann Allzweckwaffe Hutecek auch zentral verteidigen. Genauso wie Simak erfolgreich am Kreis agiert. Das Angriffssystem mit vier Rückraumspielern konnte den Ausfall von Nyfjäll abfedern. Auch die Verletzungen von Samuel Zehnder und Jan Mudrow konnten dem Team bisher nichts anhaben. Diese Flexibiltät ist das Ergebnis eines cleveren taktischen Set-Ups und langfristiger Arbeit von und mit den Spielern.

Glück mit dem Spielplan?

An den ersten neun Spieltagen hat der TBV fünfmal zu Hause und zudem gegen die 5 Teams gespielt, die aktuell die letzten fünf Plätze belegen. Davon waren allerdings mit Minden, Leipzig und Wetzlar auch drei Spiele auswärts. Wichtige Punkte für eine gute Saison, die teils sehr souverän eingefahren wurden.

Mit dem VfL Gummersbach und den Rhein-Neckar Löwen wurden zudem Teams geschlagen, die sich im Selbstverständnis vermutlich vor dem TBV sehen. Und zwar nicht glücklich und knapp, sondern recht kontrolliert. In einer begeisternden Phoenix Contact Arena, die in dieser Saison, so meine Vermutung, noch viele Heimsiege erleben wird.

Ich sehe das so: In seinen elf Saisons als Headcoach hatte Flo Kehrmann sicher mehrere Male auch ein Hammer-Programm zum Saisonstart. Wer diesen Job so lange und vor allem so erfolgreich macht, der darf auch mal ein Auftaktprogramm bekommen, das Punkte etwas wahrscheinlicher macht. Wenn überhaupt, ist das das Glück des Tüchtigen. Und holen muss man die Punkte dann eben auch erst einmal in dieser Liga und genau das ist ihm in beeindruckender Weise gelungen.

Ja, die Ausbeute des TBV kann aktuell als optimal bezeichnet werden. Und ja, Platz 3 ist eine ganz besondere Momentaufnahme, die auch im Zusammenhang mit dem Spielplan steht. Aber eben bei Weitem nicht nur damit. Der bisher beste Saisonstart von Kehrmann als TBV-Trainer ist insbesondere das Resultat kontinuierlicher Arbeit, geballter Erfahrung und großer Beständigkeit. Für die bisherigen Leistungen erhält der TBV Lemgo Lippe zurecht viel Anerkennung. Wir dürfen gespannt sein auf den weiteren Saisonverlauf.

Über den Autor

Jörg Lützelberger absolvierte von 2003 bis 2014 über 300 Spiele in der Handball-Bundesliga - unter anderem für den TV Großwallstadt, den VfL Gummersbach und den TBV Lemgo. Mit dem VfL Gummersbach gewann er 2009 den EHF-Cup sowie 2010 und 2011 den Europapokal der Pokalsieger.

Nach seiner aktiven Karriere studierte Lützelberger Kommunikations- und Medienwissenschaften an der Deutschen Sporthochschule Köln. Seitdem arbeitet er als Handball-Trainer und selbstständiger Experte für Vereine, Trainer und Spieler.

Der EHF Mastercoach führte die HSG Konstanz zweimal zum Aufstieg in die 2. Handball-Bundesliga. Seit Juli 2025 ist er Cheftrainer der HG Saarlouis in der 3. Liga.

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