Natürlich war die erste und wichtigste Frage, wie es Cyprien Sarrazin denn gehe? "Ich bin da. Und ehrlich gesagt geht es vorwärts. Ich kann sogar behaupten, dass alles in Ordnung ist. Was mir zu schaffen macht, sind eher Dinge, die die "Karosserie" betreffen, wie ich sie nenne, also zum Beispiel die Knieschmerzen, die mir zu Kopf steigen. Aber im Vergleich zu dem, was mir vor neun Monaten passiert ist, ist das nichts. Ich habe keine neurologischen Folgeschäden mehr, all meine körperlichen, geistigen und kognitiven Fähigkeiten habe ich wiedererlangt. Ich mache jeden Tag Fortschritte, auch wenn ich mich wieder etwas ernsthafter an einen Sport mache, wie zum Beispiel beim Mountainbiking."
Sind die Knier ein Hindernis in der langen Wiederaufbauphase? "Ja. (seufzt) Das ist das grosse Problem, wegen meiner Knie kann ich nicht so Sport treiben, wie es mir gefällt. Ich habe wieder starke Schmerzen wegen eines Knorpelschadens, den ich schon vor meinem Sturz hatte, jetzt sind sie wieder aufgetreten. Es nimmt gerade viel Platz ein und bringt mich mental an meine Grenzen. Es fehlt nicht viel, und ich falle in eine Depression. Alle sagen mir: "Mach nur, du kannst alles." Aber ich setze mir Grenzen und halte mich zurück. Ich nehme mir Zeit, ich weiss, was Resilienz bedeutet, mit all den Verletzungen, die meine Karriere geprägt haben. Am Ende sind das aber auch wieder blosse Kleinigkeiten, es hätte viel schlimmer kommen können."
Eine Prognose für eine Rückkehr gibt es noch nicht
Gibt es schon eine Prognose, wann er wieder auf die Skier zurückkehren kann? "Nein, ich habe noch kein genaues Datum festgelegt. Diese Saison lasse ich aus, deswegen gibt es auch keinen Stress. Ich möchte mich in erster Linie mental wohlfühlen, eine gute Zeit haben und auch körperlich wieder fit werden. Und ich will auch, dass die Bedingungen perfekt sind, wenn ich wieder auf die Ski stehe, damit ich rumkurven und Spass haben kann."
Gibt es wegen des schlimmen Sturzes in Bormio auch noch andere körperliche Folgen, die sich bemerkbar machen? "Aufgrund einer Hirnblutung bildete sich ein subdurales Hämatom. Um diese Blutung zu stillen, haben die Ärzte meinen Schädel mit einem Laser aufgeschnitten. Damit Sie sich das in etwa vorstellen können: Das Loch war so gross wie drei Kreditkarten. Nach einer sechsstündigen Operation nähten sie alles wieder zusammen. Ich hatte eine riesige Narbe von der Stirn bis zum Ohr, wie ein Wikinger."
Letztlich darf man beim 31-Jährigen durchaus von einer Wunderheilung sprechen. Ist ihm selbst das eigentlich auch bewusst? "Schon ein paar Monate danach, als ich in Interviews über die Unfallfolgen sprach, war mir bewusst, dass ich ganz nah am Tod vorbeigeschrammt war und Glück gehabt hatte, dass ich keine schweren Langzeitfolgen davongetragen habe." Der Tod von Matteo Franzoso nimmt ihn aber emotional sehr mit. "Ich kannte ihn sehr gut. Sein Tod war wirklich einschneidend für mich. Im Europacup hatten wir ein gleich schnelles Niveau, er gewann ein Rennen direkt vor mir und dann umgekehrt. Im Weltcup hatten wir die gleichen Startnummern, wir tauschten uns viel über die Rennen aus. Sein Tod war ein grosser Schock für mich, mir wurde bewusst, dass ich einen Schutzengel hatte und er nicht." Er fährt fort:
„In Gedanken bin ich bei seiner Familie und seinen Angehörigen. Ich war zum Glück nicht allein, als mir diese Nachricht überbracht wurde, und werde psychologisch betreut.“ (Cyprien Sarrazin, Tages-Anzeiger, 06.11.25)
Klare Meinung von Sarrazin bezüglich der Sicherheit im Skisport
Die Sicherheitsdebatte ist vor dem Saisonstart im Speed-Bereich allgegenwärtig. "Unsere Helme müssen besser werden! Man kann mit einem solchen Schutz nicht mit 150 km/h eine vereiste Piste hinunterrasen. Der Helm ist eine unserer wenigen Schutzvorrichtungen. Meiner ist bei meinem Sturz zerborsten und wird analysiert, ich nehme an, dass er seinen Zweck erfüllt hat. Das Gleiche gilt für meinen Airbag, der in tausend Teile zerplatzt ist. Vergleicht man unsere Helme mit denen von MotoGP-Fahrern, sind wir, was die Dicke angeht, weit von den ihren entfernt."
Er habe zwar keine Lösung dafür und ihm ist bewusst, dass das Thema komplex sei. "Doch ich bin mir sicher, dass wir alle zusammen Fortschritte machen können, um uns besser zu schützen. So können wir einfach nicht mehr weitermachen! Es muss eine Auseinandersetzung stattfinden, und wir müssen den Sportlern zuhören, die schwer gestürzt sind - wie etwa ich. Niemand ist zu mir gekommen und hat mich um ein Feedback gefragt, um daraus zu lernen. Auf Unfälle oder gar Todesfälle zu warten, damit es in unserem Sport Fortschritte gibt - das ist alles andere als optimal."
Ist Cyprien Sarrazin auch das Szenario durchgegangen, nie mehr in den Weltcup zurückzukehren? Was würde er ohne das Skifahren machen? "Das ist momentan die heikelste Frage. (er hält inne) Skifahren ist das Einzige, was ich kenne, auch mit Verletzungen. Ich weiss, dass es daneben noch andere Dinge gibt, für die ich mich begeistern kann, und meine Familie und meine Freunde. Das war mir schon vor meinem Unfall bewusst. Ich hatte mich ehrlich gesagt noch nie konkret damit beschäftigt, was kommen würde, falls es mit dem Skifahren nicht mehr weitergehen sollte. Vielleicht auch, weil alles so schnell gegangen ist."
Er nimmt sich mentale Hilfe. "Dank dieser ganzen psychologischen Arbeit, die ich seit zwei Jahren leiste, werde ich etwas aufbauen können. Meine Siege in Kitzbühel und die mir so verliehene Sichtbarkeit ermöglichen es mir, meine Erfahrungen weiterzugeben, wie ich das in den letzten Monaten schon an den Formel-1-Rennstrecken oder beim Mountainbike-Weltcup in Les Gets machen konnte. Das mache ich sehr gern, und es eröffnen sich unzählige Möglichkeiten. Doch ich habe mir keine Zeit genommen, all diese Türen zu öffnen. Ich glaube nämlich, ich verdiene es, alles zu tun, um wieder machen zu können, was ich am meisten liebe."