Fehlercode: %{errorCode}

Kein Thema mehr?

kicker

Es gäbe dutzende Möglichkeiten, diesen Text zu beginnen, der sich mit der Frage der Gleichstellung im Schiedsrichterwesen und den Perspektiven für Schiedsrichterinnen auseinander setzen soll. Man könnte einen Blick in die Schiedsrichterzahlen werfen. Man könnte sich die Meinungen von Vereinen, von Spielern und Trainern, von Fans einholen, um mit einem Blick von Außen auf das Thema zu starten. Oder man könnte mit einem Anruf bei Tanja Kuttler anfangen.

Kuttler, 36 Jahre alt, pfeift seit 2008 gemeinsam mit ihrer Schwester Maike Merz. Sie stiegen gegen viele Widerstände auf, sie wurden immer wieder gefördert, aber noch öfter kritisch beäugt. 2018 gaben die Schwestern als zweites Frauen-Team in der Historie ihr Debüt in der 1. Männer-Bundesliga. Sie etablierten sich in der deutschen Beletage, pfiffen Welt- und Europameisterschaften bei den Männern und Frauen und wurden 2024 für die Olympischen Spiele nominiert.

Ob Zeitungen, Magazine oder Onlinemedien, ob Radio oder Fernsehen: Kaum ein Schiedsrichter-Team im Deutschen Handballbund dürfte in den vergangenen Jahren so viele Presseanfragen erhalten haben wie Kuttler und Merz. Und in vielen Beiträgen ging es naheliegenderweise um die beiden Schwestern als Rolemodels für die Frauenförderung im Schiedsrichterwesen, um ihre Karriere als positives Beispiel, um ihre Rolle als Aushängeschilder. Oft waren es immer wieder ähnliche Fragen, welche die Schwestern immer wieder geduldig beantworteten - beide Schiedsrichterinnen wissen um ihre Vorbildfunktion.

Doch inzwischen, sieben Jahre und zahlreiche Schlagzeilen nach ihrem Debüt in der 1. Männer-Bundesliga, hat sich die Situation aus Sicht von Kuttler grundlegend geändert. "Wir sind aus meiner Sicht über den Punkt hinaus, wo wir als Frauen automatisch über das 'Frauenthema' sprechen 'müssen' oder darüber, was sich für Frauen ändern muss", sagt Kuttler und formuliert ihre Sätze mit Bedacht. "Ich bin verwundert, dass diese Anfragen immer noch kommen, weil es aus meiner, aus unserer Sicht im DHB-Schiedsrichterwesen einfach kein Thema mehr ist."

Die Gleichstellung im Schiedsrichterwesen: Kein Thema mehr?

Kuttler schüttelt den Kopf. Es ist kein Thema, weil die Gleichstellung im Schiedsrichterwesen des Deutschen Handballbundes aus ihrer Sicht so erfolgreich war, dass man ebenso gut mit jedem Schiedsrichter oder jeder Schiedsrichterin dazu sprechen könnte - dafür braucht es aber schlicht und einfach nicht mehr unbedingt die (weiblichen) Aushängeschilder.

"Kurz zusammengefasst: Wir haben in den vergangenen Jahren rein sportlich unfassbar viel erreicht. Wenn Frauen ihre Leistung bringen und die Tests erfolgreich absolvieren, gibt es keine Diskussion mehr", beschreibt sie. "Am Anfang unserer Karriere wurde nie ein Blatt vor den Mund genommen; man hat Maike und mir offen gesagt, dass wir nie bei den Männern pfeifen werden. Diese Unterschiede werden längst nicht mehr gemacht."

Bei ihrem Amtsantritt rief Jutta Ehrmann, die frühere Spitzenschiedsrichterin und heutige Leiterin des Schiedsrichterwesen im Deutschen Handballbund, die Gleichstellung aus. Seit der Saison 2021/22 soll bei den Ansetzungen und in der Rangliste kein Unterschied mehr gemacht, ob ein Gespann männlich oder weiblich ist. Alle Schiedsrichter-Teams haben, so war die Idee, die gleichen Rechte, aber auch die gleichen Pflichten.

Bis zu dem Zeitpunkt wurden die Punktzahlen aus den Coachings bei Frauen-Teams zwar erhoben, flossen allerdings nicht offiziell in die Rangliste ein. So konnten die Frauen zwar nicht absteigen - aber eben auch nicht aufsteigen. Sah man Potenzial bei einem weiblichen Gespann, wurde es unabhängig vom Ranking in den nächsthöheren Kader versetzt. Mit dieser Sonderbehandlung ist es seitdem vorbei.

Die Gleichstellung führte paradoxerweise dazu, dass die Zahl der Frauen-Teams in den vier höchsten Kadern von sieben (2020/21) auf vier Gespanne (2025/26) gesunken ist. Es ist auch kein Geheimnis, dass nicht alle Frauen unbedingt bei den Männern pfeifen wollten. Das wusste auch Ehrmann, die 2021 jedoch klarstellte: "Wer in einem Kader sein will, muss bereit sein, die gleichen Spiele wie alle anderen zu pfeifen - egal, ob Mann und Frau."

Vier Jahre später ist die damalige Vision von Ehrmann zumindest im Spitzenbereich wahr geworden - und die Gleichstellung im Schiedsrichterwesen daher kein Thema mehr. Deutschland ist in diesem Punkt international einer der Vorreiter. "Wir spüren, dass keine Unterschiede mehr gemacht werden und das war vor Jahren eben noch anders", betont auch Kuttler. "Jutta Ehrmann setzt geschlechtsneutral an, in der EHF pfeifen Frauen inzwischen ebenso selbstverständlich in der Champions League der Männer wie Männer in der Champions League der Frauen und auch bei der IHF ist es inzwischen Usus."

Und wie sieht es unterhalb des Spitzenbereichs aus?

Auch hier ist Kuttler, die bis heute eine enge Verbindung zu ihrem Heimatverein hat, die erste Ansprechpartnerin. "Früher war es eine Sensation an der Basis, wenn eine Frau als Schiedsrichterin in die Halle - und diese Frau musste auch noch fünfmal so gut sein", erinnert sich die 36-Jährige. "Heute schert es bei unserem Dorfverein niemanden in der Halle mehr, wenn eine Frau pfeift."

Auch an der Basis werde es immer selbstverständlicher, dass Frauen die Spiele leiten. "Es spielt uns positiv in die Karten, dass es immer mehr Schiedsrichterinnen gibt", sagt Kuttler und führt aus: "Je öfter der Mensch etwas sieht, umso normaler wird es für ihn - und dann lohnt es sich nicht mehr, darüber zu sprechen." Genau so sei es auch mit Frauen an der Pfeife - derselbe Effekt wie in der Bundesliga zeigt sich aus Sicht der Spitzenschiedsrichterin auch an der Basis.

Ein Blick auf die Entwicklung der Schiedsrichterzahlen untermauert die These von Kuttler: Für das Jahr 2024 meldeten die Landesverbände 4.463 Schiedsrichterinnen - das entspricht rund 25 Prozent der Gesamtzahl (18.208). Zum Vergleich: Im Jahr 2008 - dem ersten Jahr, in dem die Erhebung für alle Landesverbände differenziert eine Zahl an weiblichen Unparteiischen ausweist - waren ebenfalls bereits 4.453 Schiedsrichterinnen aktiv. Da die Gesamtzahl der Schiedsrichter:innen jedoch deutlich höher lag (30.076), entsprach das nur einem Prozentsatz von 15 Prozent.

Dass die Anzahl der Schiedsrichterinnen stabil gehalten werden konnte, ist zunächst ein Erfolg, darf aber "kein Grund sein, sich auszuruhen", unterstreicht Kuttler. "Wir sehen den Rückgang bei den absoluten Schiedsrichter-Zahlen und daher brauchen wir jeden Mann und jede Frau an der Pfeife. Wir müssen daher dranbleiben und die Zahlen ausweiten."

Im Rahmen der Bewegung "Hands up for more", die anlässlich um die Frauen-Weltmeisterschaft 2025 in Deutschland und den Niederlanden ins Leben gerufen wurde, wird genau diesem Gedanken Rechnung getragen. So ist nicht nur die Ausbildung von Schiedsrichterinnen im Jahr 2025 kostenfrei, sondern mit gezielten Weiterbildungen und Erlebnissen im Rahmen von "Basis trifft Spitze" werden Austausch und Förderung gezielt ermöglicht.

Schiedsrichter-Chefin Ehrmann ist die Kampagne wichtig. "Die Initiative ist gut, weil wir auf die Schiedsrichterei aufmerksam machen und gerade bei den Frauen noch viel Potenzial steckt", sagt sie. "2027 haben wir mit der Männer-WM das nächste Großereignis im eigenen Land und auch das werden wir gezielt für Aktionen nutzen."

Apropos Männer: Was sagt eigentlich ein männlicher Schiedsrichter zur Gleichstellung?

Anruf bei Thorsten Kuschel. Der 41-Jährige, im Hauptberuf Gymnasiallehrer, pfeift im Elitekader des Deutschen Handballbundes und engagiert sich im Betreuerstab des Perspektivkaders für den Nachwuchs. Er vertritt mit Blick auf den Spitzenbereich eine ähnliche Meinung wie Kuttler. "Die Gleichstellung ist gelungen", sagt er. " Anfangs gab es durchaus Stimmen, die dagegen gepoltert haben, weil es eine neue Situation war, aber meiner Empfindung nach ist es kein Thema mehr."

Ebenso wie Kuttler wählt auch Kuschel seine Worte vorsichtig. Dass die Anzahl der Frauen-Teams gesunken ist, könne man zwar nicht wegdiskutieren, aber man habe daraus gelernt. "Dem ein oder anderen Frauen-Team hat man keinen Gefallen getan", sagt er schließlich. "Dabei waren sie nicht per se schlecht oder auch nur schlechter als die männlichen Kollegen, aber die fehlende Vorbereitung hat mitunter zu einer Überforderung geführt."

Mit der fehlenden Vorbereitung sind die unterschiedlichen Ansetzungen gemeint. Vor der Gleichstellung erhielten die Frauen-Teams nicht die gleichen Spiele wie die männlichen Kollegen, Schiedsrichterinnen kamen im Bundesligakader an, ohne eine Partie in der 3. Liga der Männer gepfiffen zu haben. Ihnen fehlten die Erfahrungen, die für männliche Kollegen selbstverständlich waren. "Aus dieser Sache hat man gelernt", ist Kuschel sich sicher. "Schiedsrichter-Teams werden jetzt behutsam für neue Aufgaben aufgebaut - egal, ob männlich oder weiblich."

Nachteile für sich habe er in der Gleichstellung der weiblichen Kolleginnen nie gesehen. "Es gibt 20 Teams im Kader und du wirst angesetzt - wie viele der 19 anderen Teams männlich oder weiblich sind, ist für uns egal", betont er. Er argumentiert ähnlich wie Kuttler. "Vor zehn, fünfzehn Jahren war das anders, aber inzwischen ist es für alle Beteiligten keine Überraschung mehr, wenn Frauen als Schiedsrichter auf dem Feld stehen. Es ist keine Schlagzeile mehr und wenn wir es nicht mehr zu einem Thema machen, schaut auch keiner mehr drauf. Das ist auch gut so."

Eine Aufmerksamkeit auf die Gewinnung von Schiedsrichterinnen zu lenken, wie es im Rahmen von "Hands up for more" geschieht, ist für Kuschel trotzdem für "essentiell", wie er es nennt. "Das Hauptproblem ist aus meiner Sicht nicht mehr die Gleichstellung oder Gleichberechtigung im späteren Bereich, sondern liegt in der Aktivierung", beschreibt der Bundesliga-Referee und schildert einen Eindruck aus Gesprächen mit seinen handball-affinen Schüler:innen: "Während Jungen das Pfeifen einfach mal als Experiment ausprobieren, scheint es für Mädchen oft gar nicht attraktiv oder erstrebenswert zu sein. Wenn es uns gelingt, an diesem Punkt anzusetzen, wäre ganz viel gewonnen."

Zum Abschluss: Ein Blick zurück - und nach vorne

Lediglich in einem Punkt, da sind sich Kuttler und Kuschel - ohne miteinander gesprochen zu haben - einig, gibt es auch im Spitzenbereich noch Handlungsbedarf. Beide wünschen sich eine klare Leitlinie für den Umgang mit sowie die Wiedereingliederung nach einer Schwangerschaft.

"Männer haben biologisch betrachtet den Vorteil, dass sie nicht körperlich raus sind, wenn sie Eltern werden", sagt Kuschel. "An diesem Punkt muss es eine besondere Unterstützung für Schiedsrichterinnen geben, damit der Wiedereinstieg gelingt und wir sie nicht verlieren."

Kuttler sieht das genauso wie ihr männlicher Kollege. "Bei Maike und mir hat es dank der engen Abstimmung mit den Verantwortlichen wiederholt hervorragend geklappt, aber es darf nicht dem Zufall überlassen werden, ob das klappt", betont sie.

Ein positives Beispiel sei gerade die aktuelle Babypause von Kuttler. Der Kontakt zu den Verbänden ist weiterhin eng, Merz wird als Delegierte eingesetzt und die beiden Schwestern nehmen weiterhin (online) an Schulungsmaßnahmen des Weltverbandes teil, "um am Ball zu bleiben", wie Kuttler es nennt. "Es läuft bei uns im Spitzenbereich wirklich sehr gut und das würde ich mir für alle Schiedsrichterinnen wünschen."

Dass sie spätestens zur kommenden Saison zurück auf der Platte sein will, steht für Kuttler fest. "Ich liebe das Pfeifen und bin wahnsinnig stolz, was Maike und ich erreicht haben, obwohl man uns früher ins Gesicht gesagt hat, was wir alles nicht schaffen werden", sagt sie. Dass es der nächsten Generation anders ergeht, ist ihr großer Wunsch - von dem sie dank der Entwicklung in den letzten Jahren aber auch überzeugt ist.

"Ich glaube fest daran, dass es für junge Frauen und Mädchen in Zukunft anders sein wird. Sie sehen uns, sie sehen Sophia und Rosana, sie sehen die Frauen in der 3. Liga, in der Jugendbundesliga und im Landesverband pfeifen - und sie sehen so die Perspektiven, die sie auch selbst haben", sagt Kuttler. "Wir kennen die Zeit vor und nach der Gleichstellung mit all den Kämpfen, die wir ausfechten mussten, weil wir Schiedsrichterinnen sind, aber für die nächste Generation wird es in fünf oder zehn Jahren völlig normal sein, dass Männer und Frauen in jeder Liga an der Pfeife stehen und die gleichen Spiele pfeifen, wenn sie ihre Leistung bringen. Und das ist alles, was zählt."

SHEROES - Faszination Frauenhandball

SHEROES nimmt Dich mit auf eine faszinierende Reise durch die Welt des Frauenhandballs - von den ersten Schritten im Heimatverein bis in die großen Arenen Europas und auf die olympische Bühne. Neben reichlich Tipps und Tricks, schildern die Stars mitreißend und authentisch ihren Weg nach ganz oben, die Schwierigkeiten und die magischen Momente, die sie geprägt haben.