Ausgerechnet genau zu der Zeit, in der Formel-1-Chef Stefano Domenicali eine dringliche Sitzung mit allen Teamchefs einberufen hat, damit in künftigen Reglements der Königsklasse wieder alle Macht von den Fahrern ausgeht, führt das aktuelle Titelrennen den Boss des Fahrerlagers ad absurdum: Einen Kampf um die WM-Krone im Motorsport wie diesen hat es schon lange nicht mehr gegeben. Drei Rennen innerhalb von drei Wochen, drei Piloten - drei Fäuste für ein Halleluja.
Die Dinge spitzen sich zu vor dem gefürchteten Triple in Las Vegas, Katar und Abu Dhabi. Maximal 83 Punkte gibt es noch zu holen, da in Losail auch der letzte Sprint des Jahres auf dem Programm steht. Lando Norris hat mit 24 Zählern Vorsprung auf seinen McLaren-Teamkollegen Oscar Piastri bereits eine Hand am Pokal. Der Australier, bis vor ein paar Wochen noch sicherer WM-Spitzenreiter, hat wiederum 25 Punkte Vorsprung auf Titelverteidiger Max Verstappen. Da scheint vieles auf einen komfortablen Erfolg des führenden Briten hinauszulaufen.
Aber die Kapriolen der letzten Monate zeigen, dass sich keiner zu sicher fühlen darf. Denn in der Auslaufrunde des aktuellen technischen Reglements sind die Abstände zwischen den Rennwagen minimal, es kommt stark auf die Tagesform an - vor allem auf die des Fahrers. Alle Macht ins Cockpit - das spricht für eine starke Formel 1. Wie das große Finale der Saison ausgehen könnte? Bei unserer Analyse der Kandidaten spielen drei Kriterien eine Rolle: die Strecken, die Teams und die Nerven.
Die Strecken
Der Neon-Grand-Prix in Las Vegas ist ein Rennen, mit dem McLaren noch nie richtig zurechtgekommen ist. Das liegt auch an den kühleren Temperaturen in der Nacht. Von den drei Anwärtern konnte nur Verstappen bisher auf dem Strip gewinnen - gleich bei der Premiere 2023, und obwohl der 28-Jährige den Wüstentrip so gar nicht mag.
Auf der Motorradpiste in Lusail werden die Favoriten mit genau gegenteiligen Bedingungen konfrontiert, es ist heißer als heiß. Bedingungen, die für McLaren sprechen. Doch 2023 hieß die Reihenfolge im Ziel Verstappen vor Piastri und Norris, im Vorjahr gewann ebenfalls der Niederländer, Piastri wurde Dritter.
Der enge Yas-Marina-Circuit setzt den Schlusspunkt, hier kommt es vor allem auf das Qualifying an. Der finale Test, ob sich die Aerodynamik des Red Bull tatsächlich stark verbessert hat. Im Vorjahr triumphierte Norris, davor Verstappen.
Die Teams
Alles auf Verstappen setzen, etwas anderes ist Red Bull schon die ganze Saison nicht übrig geblieben. Auf die Schützenhilfe von Yuki Tsunoda ist kein Verlass. Bis zum Schluss investieren die Bullen in größere und kleinere technische Upgrades für die Aufholjagd und riskieren damit eine bessere Vorbereitung auf die neue Saison. Doch das entspricht dem Ehrgeiz von Team und Fahrer. Sie haben die Chance gewittert, wenn auch spät, und sie glauben daran. Was die Motivation durch den besten Piloten im Feld alles ausmachen kann - es ist noch einmal ein Ruck durch den Rennstall gegangen. Die Rolle als Angreifer, auch die als Außenseiter, scheint der erfolgsverwöhnten Truppe zu liegen. Allerdings: Das Auto ist - bei allen Verbesserungen - eine Wundertüte geblieben.
McLaren hat mit dem Konstrukteurstitel das wichtigste Saisonziel bereits erreicht, die ganze Power geht schon in die Autos für die kommende Saison. Der so lange so überlegene Rennwagen macht in letzter Zeit viele Zicken. Norris und Piastri lässt man weitestgehend fahren, auch wenn die für Gleichberechtigung und Fairness geltenden "Papaya Rules" bislang immer eher gegen den Australier ausgelegt wurden. Das sorgt für eine Unruhe, die der große Stratege Andrea Stella gar nicht gebrauchen kann. Der Italiener ist einer, der immer mit dem Schlimmsten rechnet, und deshalb unterschätzt er auch die Gefahr durch Verstappen nie. Wie gut er die Rivalität seiner beiden Fahrer im Zaum halten kann, könnte titelentscheidend werden.
Die Nerven
Reine Kopfsache, so ein zugespitztes Titelrennen. Das liegt Verstappen im Naturell, und von den drei Kandidaten hat er die größte Erfahrung, was Psycho-Spielchen angeht. Beeindruckend, wie er sich und sein Team aus dem mentalen Tief zur Saisonmitte befreit hat. Da steckt viel Willenskraft dahinter, aber auch der Mut der Verzweiflung, garniert mit einer Portion Gelassenheit: "Selbst wenn ich den Titel nicht gewinnen sollte, weiß ich, dass ich eine ziemlich gute Saison fahre. Das zeigt sich doch allein schon dadurch, dass ich weiterhin im Gespräch bin." Allen hektischen Funksprüchen zum Trotz ruht da einer in sich und lauert auf die Chance, dass sich die McLaren gegenseitig in die Quere kommen.
Mit seinem siebten Saisonsieg in Interlagos ist Norris (26) gleichgezogen mit dem zwei Jahre jüngeren Gegenspieler Piastri. Der Brite ist derjenige, der den größten Wandel in diesem Rennjahr vollzogen hat. Plötzlich ist Norris Favorit, nicht mehr Außenseiter wie im letzten Jahr. Aber er will nicht, dass der greifbar nahe Titelgewinn etwas mit ihm macht: "Darüber denke ich ganz und gar nicht nach."
Tunnelblick, bloß nicht in Euphorie verfallen, schon gar nicht wieder Selbstzweifel aufkommen lassen. Innerhalb von sieben Rennen hat er die Machtverhältnisse bei McLaren und in der gesamten Formel 1 gedreht. Wie? "Meine Mentalität hat sich verbessert, meine Herangehensweise hat sich verbessert, meine Vorbereitung hat sich verbessert." Dabei hat er seine eigene Linie gefunden, konstant gepunktet. Genau das, was er jetzt weiterhin tun muss.
Ein bisschen also von Piastris Taktik, die ihn nach der Sommerpause zum klaren Favoriten hat werden lassen, die der Australier in den letzten sieben Rennen mit einem Patzer nach dem anderen aber selbst torpedierte. Ein unerklärlicher Abstieg, wohl auch eine Frage des Umgangs mit dem gestiegenen Druck. Piastri scheint sein Glück erzwingen zu wollen, dabei schmilzt sein Image als "Iceman", der sich selbst gut zuredet: "Ein Teil meiner Schwierigkeiten ist, dass das, was die ganze Saison über gut funktioniert hat, plötzlich nicht mehr so gut funktioniert. Aber jetzt weiß ich, was ich tun muss. Ich muss es nur noch umsetzen."
So einfach also ist es vermeintlich dann doch, Weltmeister im Jubiläumsjahr der Formel 1 zu werden - zumindest in der Theorie. In der Praxis müssen nicht nur Auto und Strecke, sondern auch Herz und Hirn synchronisiert werden.