Eine Kolumne von Tobias Reichmann
Es gibt Themen im Handball, die kommen alle paar Jahre wieder auf den Tisch - gerne dann, wenn prominente Führungsspieler - wie jüngst Nationalmannschafts-Torwart Andreas Wolff - einmal kräftig durchfegen und die "Schauspielerei" im Handball anprangern. Und ganz ehrlich: So falsch liegt Andi damit nicht. Aber nur, was die Torhüter betrifft.
Tatsächlich gibt es Torhüter, die schneller an ihren Kopf greifen als der Schiri zur Pfeife greifen kann. Einmal minimal die Schulter touchiert, dann über den Scheitel gestrichen - zack, geht das ganz große Theater los. Das ist nicht meine Welt, da gebe ich Andi Wolff absolut Recht.
Das ist dann auch nicht Handball. Und sollte von den Schiedsrichtern auch genau so behandelt werden: rügen, gegebenenfalls sogar ahnden. Ein wirklicher Kopfwurf dagegen, frontal und während der Torwart steht - geschenkt, klare Sache, muss unbedingt bestraft werden. Aber alles andere fällt unter "Berufsrisiko", da geht der ein oder andere Ball auch mal knapp am Kopf vorbei. Und das ist seit Jahrzehnten Teil dieses Sports.
Anzeige beim Schiri ist ok
Bei den Feldspielern ist das Thema meiner Meinung nach deutlich komplexer. Da wird schnell mal Mathias Gidsel genannt. Einer, der angeblich jeden zweiten Pfiff bekommt, weil er übertreibt. Sorry - das sehe ich überhaupt nicht. Gidsel erzielt Treffer am laufenden Band. Er kassiert aber auch Treffer am laufenden Band.
Und dass er bei seinem hohen Tempo mal signalisiert, dass da gerade jemand am Hals oder im Gesicht unterwegs war? Das halte ich für reflexartig, menschlich - und absolut legitim. Und das gilt auch für die anderen Tempodribbler der Liga: Kristjánsson, Ellefsen á Skipagøtu, die ganze Clique der Eins-gegen-eins-Akrobaten. Wer sich so in die Lücken schmeißt, lebt naturgemäß mit einem höheren Risiko. Anzeige beim Schiri? Klar. Gehört in Maßen dazu.
Beim Thema Schauspielerei sind vor allem die Schiedsrichter gefragt. Die kennen die üblichen Verdächtigen aus dem Videostudium ganz genau. Und wer als Unparteiischer vor dem Spiel mal kurz zu einem Spieler sagt: "Heute nicht übertrieben auf Stürmerfoul gehen, ja?" - der hat schon präventiv sehr viel gewonnen. Denn eines ist sicher: Alles, was zugelassen wird, wird auch ausgereizt.
Schmaler Grat zwischen Cleverness und Theatralik
Und mal Hand aufs Herz: Niemand will Schauspielerei im Handball sehen. Aber wehe, der eigene Abwehrspieler zieht ein Stürmerfoul mit einem etwas ausufernden Nachhintenfallen. Dann ist er plötzlich kein "Schauspieler", sondern ein "Schlitzohr". Beim Gegner ist es Theatralik - bei uns ist es Cleverness. Das ist ein uralter Reflex, der den Handball auch immer begleiten wird.
Zwischen "clever einen Pfiff ziehen" und "unangenehm Theater spielen" liegt nun mal ein extrem schmaler Grat. Und oft entscheidet nicht die Aktion selbst darüber, sondern das Standing des Spielers. Wie lange er schon dabei ist, wie routiniert er ist, was er ausstrahlt in der Situation. Da bekommen ein Gidsel oder ein Duvnjak vielleicht auch mal eher einen engen Pfiff als ein Nachwuchsspieler.
Mehr Showspiel als Schauspiel
Manches ist vielleicht auch eher Showspielerei als Schauspielerei. Und davon gibt es in der Bundesliga definitiv mehr als Schauspielerei. Show meine ich auch nicht per se negativ - ganz im Gegenteil. Der Heber beim Gegenstoß, der Dreher aus spitzem Winkel, die Rückhand aus dem Nichts: Wenn es funktioniert, explodiert die Halle.
Wenn es nicht funktioniert: kollektives Kopfschütteln. Aber rein sportlich gesehen ist es oft die einzig richtige Entscheidung. Wer aus dem Nullwinkel von der Grundlinie wirft, kann nicht gerade ins Tor werfen. Da ist der Dreher keine Kunst - sondern der Wurf, der am wahrscheinlichsten ein Tor wird.
Und Showeinlagen haben noch einen Wert, den keine Statistik erfasst: Sie reißen die eigene Mannschaft mit. Sie reißen die Zuschauer mit. Manchmal verändern sie ein ganzes Spiel.
Aber zurück zur Schauspielerei. Es bleibt also die Frage: Noch Schlitzohr oder schon Schauspieler? Vielleicht ist die ehrlichste Antwort: Solange es dem Handball nicht schadet, darf es ruhig ab und zu beides sein. Nur bitte mit Maß. Und ohne Theater, wenn’s eigentlich nur die Schulter war.
Tobias Reichmann hat dreimal die Champions League gewonnen, in 106 Spielen für Deutschland 291 Tore geworfen und galt Zeit seiner Karriere als einer der meinungsstärksten Profis. Heute arbeitet er bei seiner Firma EHM als Remote Personal Trainer für Profis und Amateure. Für handball-world.news ordnet der 37-Jährige in regelmäßigen Abständen aktuelle Themen aus der Welt des Handballs ein.