Man muss schon eine Weile zurückgehen, um einen Quarterback zu finden, der so kontrovers diskutiert wurde wie Shedeur Sanders, mit so wenig Fokus auf das Sportliche. Tim Tebow damals war das in Denver und der Social-Media-Kult um Sanders mag noch nicht ganz auf Tebow-Level sein, er ist aber mindestens dahin unterwegs.
Dementsprechend war es wenig überraschend, dass Sanders’ erstes Spiel als Starter in der NFL ein wildes Take-Gewitter zur Folge hatte. Es war immerhin der erste Starting-Debüt-Sieg eines Browns-Rookie-Quarterbacks seit 1999. Die letzten 17 Quarterbacks hatten ihr Rookie-Starter-Debüt für Cleveland verloren.
Vor allem aber war es Shedeur Sanders. Keine Personalie ist aktuell so aufgeheizt, bei keinem Spieler gibt es so krasse Gegensätze in der öffentlichen Wahrnehmung. Manche feiern ihn und all das, wofür er und sein Vater stehen. Andere kommen zu dem exakt gegenteiligen Schluss.
Dementsprechend war fast egal, wie das Spiel ausging. Die Hot Takes hätte es so oder so gegeben, weil bei Sanders scheinbar bereits jetzt nur Extreme existieren. Da ist dann davon die Rede, dass NFL GMs sich abgesprochen hätten, um Sanders im Draft nicht höher zu picken. Oder davon, dass Browns-Coach Kevin Stefanski Sanders nicht haben wollte und ihn bewusst abstraft, indem er ihn zur Nummer 3 macht.
Und Sanders kann mitunter nichts dafür. Einige der Narrative um ihn und all das, was in den Tagen rund um seine ersten Snaps in der Vorwoche gegen die Ravens auf den sozialen Medien herausposaunt wurde - dafür kann er nichts. Die mitunter absurden Social-Media-Kreuzzüge einiger Medienvertreter, die jeden Pass von Sanders in den Himmel loben, was Gegenstimmen umso lauter werden lässt? Auch dafür kann Sanders nichts. Der Diskurs wird dadurch Woche für Woche toxischer, seine Person zunehmend aufgeladen.
Sanders gießt weiter Öl ins Feuer
Gleichzeitig wäre es sehr viel leichter, Sanders zu verteidigen, wenn er sich dann nicht nach seinem Starting-Debüt gegen die Raiders hinstellen und sagen würde: "Nicht jeder hat immer die beste Ausgangslage, aber es gibt keine Ausreden. Man geht raus und liefert ab. Niemanden interessiert es, ob es nur eine Woche Vorbereitungszeit gab. Viele Leute wollen sehen, dass ich scheitere. Aber das wird nicht passieren."
Das gab Sanders nach dem Spiel auf der Pressekonferenz zu Protokoll, nachdem er noch auf dem Platz in die CBS-Mikrofone klargestellt hatte: "Das war nach einer Woche Vorbereitung, eine Woche Vorbereitung. Stellt euch vor, wie es mit einer vollen Offseason aussehen wird. Dann wird es gefährlich.”
Es sind diese großspurigen Ankündigungen. Diese Aussagen, die Selbstvertrauen darstellen sollen, aber stattdessen prahlerisch daherkommen - und angesichts der Tatsache, dass er noch nichts in der NFL gezeigt hat, wie heiße Luft wirken. Es sind Aussagen wie "viele Leute wollen sehen, dass ich scheitere". Diese Ich-bezogene Mentalität ist nichts, was Franchise-Quarterbacks an den Tag legen, erst recht nicht in der Darstellung nach außen. Sanders macht das mit Nachdruck. Immer wieder. Er spricht offen darüber, wie in den sozialen Medien über ihn diskutiert wird. Sich als NFL-Quarterback damit zu befassen ist generell vermutlich nicht gesund, es aber nach einem Spiel anzusprechen, lässt Fragen zu, was seinen Fokus angeht.
Die Art und Weise, wie er sich nach dem Spiel gegen die Raiders gab, unterstrich, dass er unbedingt ein paar Takes und Zitate raushauen wollte. Doch das wirkt im NFL-Kontext nicht wie Selbstvertrauen, es wirkt wie Selbstüberschätzung. Und dann all das auch noch nach einem Spiel, in dem er mehr Beifahrer als sonst irgendetwas war.
Wie lief das Debüt von Shedeur Sanders wirklich?
Die Browns-Defense hatte gegen die Raiders zehn Sacks. Myles Garrett ist nach einem weiteren Spiel mit drei Sacks nur noch fünf davon entfernt, den Single-Season-Sack-Rekord zu brechen. Das war die eigentliche Geschichte dieses Spiels, auch wenn Sanders natürlich Schlagzeilen machte. Die Raiders feuerten Offensive Coordinator Chip Kelly unmittelbar nach dem Spiel.
Wenn man auf die Offense schaut, ist die nüchterne, nicht Narrativ-getriebene Beobachtung erst einmal, dass die Browns einen sehr guten Plan hatten, um Sanders zu helfen.
Sanders brachte in seinem ersten Start lediglich elf Pässe an, Cleveland als Team hatte keine 24 Minuten lang den Ball und keine 275 Total Yards. Bei acht First Downs weniger als die Raiders auf der anderen Seite.
Von den elf Completions waren fünf hinter der Line of Scrimmage, inklusive Sanders’ erstem NFL-Touchdown-Pass: Ein Screen zu Running Back Dylan Sampson, der daraus einen 66-Yard-Touchdown machte.
Und sonst? Eine Completion war ein Quick Screen zu Fannin. Er hatte zwei Completions über die Mitte Underneath jeweils bei Dritter-und-Lang, wo die Browns nach dem zu kurzen Pass punten.
Er hatte einen Play-Action-Dumpoff zu Fannin, einen Dumpoff in die Flat zu Tillman, einen zu kurzen Screen bei Dritter-und-Lang. Das sind die Art Completions, über die wir hier weitestgehend sprechen, mit zwei klaren Ausnahmen, dazu gleich mehr.
Doch vor allem hatte Cleveland einen guten Plan, um Sanders nach dem Dropback in der Spur zu halten. Mit vielen designten Rollouts oder One-Read-Plays, bei denen er den Ball sicher und schnell loswerden konnte. Denn das war ein klares Problem in der Woche davor gegen Baltimore, als Sanders für den verletzten Dillon Gabriel rein kam: Das Driften zurück in der Pocket, das aussichtslose Verlängern von Plays, was in der NFL schlicht nicht so funktioniert wie bei Colorado.
Hier hatten die Browns einen klaren Plan, und hier zeigte Sanders auch am ehesten greifbare Fortschritte. Weil er vertikal in die Pocket arbeitete, oder eben horizontal bei designten Rollouts, oder wenn er dem Rush ausweichen musste. Nicht nach hinten. Er hielt den Ball auch nur sehr vereinzelt etwas länger, das Timing war klar besser als noch in der Woche davor.
Das waren sehr greifbare positive Punkte - die jetzt ironischerweise kaum diskutiert werden -, bei denen man gespannt sein darf, wie er sich hier weiter entwickelt. Auch wenn wir erst einmal über kleine Fortschritte sprechen.
Sanders: "Konnten ein paar Dinge gerade rücken"
Wenn Sanders also nach dem Spiel sagt, "jeder hat seine Meinung über mich. So ist es eben. Ich bin einfach dankbar, hier vor euch zu stehen und hoffentlich konnten wir heute ein paar Dinge gerade rücken", dann muss die Nachfrage eigentlich lauten: Welche Dinge? Was genau hat er gerade gerückt?
Sanders war ein Tag-2-Quarterback-Prospect vom Talent-Level her. Der Zirkus um ihn herum - nicht die sportliche Analyse - war mit hoher Wahrscheinlichkeit das, was Teams davon abhielt, ihn höher zu picken. Und nach dem, wie die Saison bisher gelaufen ist, dürften sich die Teams hier bestätigt sehen.
Also was genau hat Sanders am Sonntag gerade gerückt? Sein Profil war das eines Quarterbacks, der vielleicht ein solider Game Manager auf dem nächsten Level werden kann. Genau das war er am Sonntag. Sanders hatte zwei, maximal drei wirklich schwierige Würfe: Der tiefe Pass auf Isaiah Bond, sein mit Abstand bester Wurf des Spiels, bei dem er aus der Bewegung heraus jede Menge Power in den Wurf legte und den Ball gut 50 Yards das Feld runter feuerte. Ein toller Wurf.
Sanders hatte ein weiteres Play, bei dem er Pressure gut navigierte und den Ball zum offenen Jerry Jeudy brachte, auch wenn Jeudy den Ball kurz danach weg fumbelte. Das waren die beiden Highlights. Zwei Big Plays, ansonsten Scheme-getriebene Production.
Der Rest war eine Kombination aus einem extrem auf Sicherheit bedachten Game Plan und absoluten Basic-Pässen, die jeder NFL-Quarterback - Backup, Starter oder Practice Squad - anbringen muss. Dabei hatte er noch eine üble Interception bei einem Wurf, den gleich zwei Raiders-Verteidiger hätten abfangen können, weil er offensichtlich nach dem Snap gar nicht erkannte, was die Defense macht.
Das unterstreicht, warum sein Auftreten nach dem Spiel so irritierend war. Es war ein solides Debüt als Starter gegen ein desolates Raiders-Team. Das wird seine Kritiker abermals mit Munition versorgen, weil Sanders keinerlei Gespür dafür zeigt, ob das der richtige Moment zum Prahlen ist.
Stattdessen zeigen Sanders’ Aussagen nach dem Spiel eine "das ist meine Story"-Einstellung. Er steht im Mittelpunkt, nicht das Team. Das zumindest ist die Außendarstellung. Hier hätte er nach dem Spiel tatsächlich Dinge gerade rücken können, entschied sich aber für das genaue Gegenteil.
Und vermutlich wäre es naiv, Demut von Sanders nach einem Sieg im ersten NFL-Start zu erwarten. Aber doch zumindest ein besseres Gefühl dafür, wie bestimmte Aussagen aufgenommen werden. Nicht nur medial oder bei Fans, sondern auch im Locker Room. Sollte er nächste Woche wieder spielen und dann ein schlechtes Spiel haben und das Team verliert, fliegen ihm diese Aussagen prompt um die Ohren. Dass er gewillt ist, das nach einem 11-Completion-Spiel gegen die Raiders in Kauf zu nehmen, kann man entweder als massives Selbstvertrauen, oder als massives Ego deuten.
Diese beiden Dinge liegen gerne mal nah beieinander. Doch kann man selbstbewusst auftreten, ohne sich dabei mit jeder Aussage zur Zielscheibe zu machen. Dafür müsste man jedoch sich selbst weniger in den Vordergrund rücken.
Browns: Sanders startet auch in Week 13
Sanders geht hier das volle Risiko. Sein Auftreten macht ihn extrem angreifbar. Er selbst ist ohne Frage so sehr von sich überzeugt, dass er sicher ist, dieses nach außen transportierte Selbstbewusstsein auch mit sportlichen Leistungen untermauern zu können. Vielleicht spricht das für ihn. Sollte es aber auf dem Platz schief gehen, wird er das im Nachgang deutlich zu spüren bekommen. Das ist der Preis für diese Art des Auftretens.
Die Analyse von Kevin Stefanski war im Vergleich fast angenehm nüchtern. "Ich denke, man hat heute viele der Dinge gesehen, die Shedeur gut macht", gab Clevelands Head Coach nach dem Spiel zu Protokoll. "Es gab viele Dinge, die er gut gemacht hat und viele Dinge, an denen er arbeitet. Das ist etwas, das ich bei jungen Spielern zu schätzen weiß, wenn sie sich verbessern wollen."
Stefanski wollte unmittelbar nach dem Spiel wenig überraschend noch keine Quarterback-Entscheidung verkünden. Er sei stolz auf Sanders, stolz "auf die Offense und es gibt viele Dinge, von denen wir noch lernen können". Und mit Blick auf die Quarterback-Frage stellte er klar: "Ich werde mir immer Zeit nehmen und die beste Entscheidung für das Team treffen."
Bereits am Montag erfolgte die Entscheidung: Sanders startet auch am kommenden Sonntag gegen San Francisco.
Gut möglich, dass Stefanski die Entscheidung bereits mit Ende des Spiels gegen die Raiders abgenommen worden war. Denn Sanders mag mit seinem Auftreten abseits des Platzes polarisieren, auf dem Platz hat er mindestens angedeutet, dass er der Offense vielleicht mehr geben könnte als Dillon Gabriel. Wenn auch nur in ein, zwei Momenten.
Doch das in Kombination mit dem Sieg und dem durchaus denkbaren Druck auf Stefanski - ob von innerhalb der Franchise oder von außerhalb - wird dazu beigetragen haben, dass Sanders zumindest einen weiteren Start gegen die 49ers bekommt. Obwohl Gabriel wieder fit ist.
Auch hier gilt: Egal, was als nächstes passiert, es wird Diskussionen geben. Wenn Stefanski Sanders zeitnah wieder zum Backup macht, wird es einen Aufschrei geben. Wenn Sanders gegen die Niners eine Boxscore-Stat-Line hat, die ähnlich schlecht ist wie seine Advanced-Stat-Line vom vergangenen Sonntag, wird es viel Häme, Spott und "hab ich doch gesagt"-Momente geben. Sanders wird jetzt erst einmal die Sport-Talkshows in den USA in dieser Woche dominieren.
Und vielleicht lässt Sanders seinen Worten nach dem Spiel gegen die Raiders im Spiel gegen San Francisco Taten folgen. Dann ist ohnehin alles möglich.
Die Interviews im Anschluss werden in jedem Fall mit Sicherheit Must-Watch-TV. Die Hot Takes, und das wird Sanders wissen, kommen so oder so.
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