Wie schnell die Emotionen im Fußball umschlagen können, dafür lieferte die Champions-League-Partie zwischen dem FC Liverpool und Atletico Madrid (3:2) mal wieder ein schönes Beispiel - in Person von Diego Simeone. Nach nur sechs Minuten lag sein Team mit 0:2 zurück, um nach zwei Toren von Liverpool-Spezialist Marcos Llorente doch noch am Punkt zu schnuppern. Ausgiebig bejubelte der Coach mit seinem Team vor allem den Ausgleich in der 81. Minute.
Doch Virgil van Dijk drehte mit seinem Kopfball zum 3:2 in der Nachspielzeit den Spieß noch um. Auf Atleticos Bank brachen daraufhin wieder alle Dämme, aber diesmal aus purer Wut. Simeone beklagte sich, von den hinter ihm postierten Liverpool-Fans massiv beleidigt worden zu sein, ein besonders schadenfroher und lautstarker Anhänger sowie zahlreiche ausgestreckte Mittelfinger waren auf den TV-Bildern deutlich zu sehen. Die Ordner an der Anfield Road hatten alle Hände voll damit zu tun, dass die Auseinandersetzung nicht in Handgreiflichkeiten endete.
Einzelheiten über den Vorfall wollte Simeone nicht preisgeben. "Ich werde nicht näher auf die Art der Beleidigungen eingehen. Ich möchte mich nicht auf diese Diskussion einlassen", sagte er. "Ich weiß, was hinter der Trainerbank vor sich ging. Ich kann die Probleme der Gesellschaft nicht in einer Pressekonferenz lösen. Ich muss damit leben." Simeone habe sich so verhalten, weil "ich ein Mensch bin".
Letztlich überzog der Argentinier allerdings, auch nach Auffassung von Referee Maurizio Mariani, der dem Coach die Rote Karte zeigte. Simeone ist unterdessen der Überzeugung, dass sich grundsätzlich etwas ändern müsse und brach eine Lanze für seine Zunft. "Wir Trainer haben kein Recht, keine Möglichkeit zu antworten oder zu reagieren. Und es ist nie gut, wenn wir es doch tun. Auch wir können wütend werden", verteidigte er sich. "Genauso wie wir gegen Rassismus kämpfen, sollten wir uns auch mit diesem Thema befassen. Denn wir haben kein Recht, darauf zu reagieren, und es ist nicht leicht, während des gesamten Spiels beleidigt zu werden."
Simeone kennt auch die Täterrolle
Vielleicht würden diese Worte eher durchklingen, wäre Simeone nicht selbst mehr Rambo als Gentleman an der Seitenlinie. Auch wenn es die vergangenen Jahre ruhiger um ihn geworden ist, ist seine Liste von Verfehlungen doch ellenlang: Nach dem verlorenen CL-Endspiel 2014 wollte er Real-Verteidiger Raphael Varane an den Kragen ("Er hat einen Ball in meine Richtung geschossen und das hat mich böse gemacht"). Im selben Jahr schlug er einem vierten Offiziellen zweimal leicht auf den Hinterkopf und wurde für acht Spiele gesperrt.
Auch im Februar 2015 ging es drunter und drüber, diesmal war ein Deutscher betroffen. Der damalige Co-Trainer Mono Burgos und Simeone beleidigten Leverkusen-Coach Roger Schmidt weit unter der Gürtellinie. 2016 wies er einen Balljungen an, einen zweiten Ball auf das Spielfeld zu werfen, um einen Konter zu unterbinden. Unvergessen auch sein Tor-"Jubel" nach einem Spiel gegen Juventus Turin im Februar 2019, als er sich Richtung Zuschauer drehte und in den Schritt griff.
Reagiert Liverpool?
Meist gab sich Simeone nach seinen eigenen Verfehlungen reumütig, so auch ein wenig am Mittwoch. "Meine Reaktion ist nicht zu rechtfertigen", sagte der 55-Jährige und beteuerte, er hätte an seinem Platz bleiben müssen. "Aber wissen Sie, wie es ist, 90 Minuten lang beleidigt zu werden? Ich hoffe, dass Liverpool diesen Aspekt verbessern kann und dass es Konsequenzen gibt, wenn die Person identifiziert wird."