Dieser Artikel stammt aus Ausgabe #20 unseres Magazins Bock auf Handball. Die Ausgabe und damit den gesamten Text mit allen Fotos könnt ihr HIER versandkostenfrei bestellen.
Trainingseinheiten am Strand, die Mitspieler sind gleichzeitig die besten Freunde, und selbst die kleinen Kinder können hier schon unbeaufsichtigt mit dem Rad zur Sporthalle fahren. Man kennt sich, man trifft sich, man hilft sich. Heile Welt: Norderney. Ob Robin Mertens wusste, was ihn in seiner neuen Heimat erwarten würde? Als er 2004 der Liebe wegen als Sporttherapeut vom Rande des Ruhrgebiets auf die Insel kam? Wohl kaum. Ob er heute weiß, was ihn - neben seiner Frau Inga - nicht mehr gehen lässt? "Auf jeden Fall. Ich genieße das Leben hier auf Norderney. Die Insel, das Meer, die Menschen - und den Handball hier beim TuS", sagt der Leiter der Handballabteilung.
Wer hier groß geworden ist, kennt es nicht anders. Und hat meist auch keinen Grund, von Norderney wegzugehen. Und wer neu dazukommt, verliebt sich in Land und Leute. So, wie es Hanna (20) gerade erlebt, die ihren Bundesfreiwilligendienst bei der hiesigen Stadtverwaltung leistet. Und die praktischerweise bei der HSG Bad Bentheim-Gildehaus Handball spielt und jetzt von ihrem Zweitspielrecht für den TuS Gebrauch macht. "Die Insel und die Leute hier sind einfach toll, es ist viel familiärer hier als in der Stadt, diese große Gemeinschaft - das gefällt mir sehr gut!"
Vereinsleben in Reinkultur
Mareikje Dunker (36), Torfrau der Damenmannschaft und Trainerin der weiblichen D-Jugend, Außenspielerin Lara Ortmann (19) und Hannah Mertens (19), die Tochter von Abteilungsleiter Robin, nicken zustimmend. Sie schauen raus aufs Meer, wo gerade die Fähre Richtung Norddeich wieder abgelegt und noch einmal ihr Horn ertönen lässt, dann erzählen sie, was den TuS Norderney so besonders macht. "Es sind die Freunde, das Training, die Spiele, die gemeinsamen Fahrten und die gemeinsamen Partys, die viele Zeit, die man zusammen verbringt." Man könnte auch sagen: Es ist Vereinsleben in Reinkultur. Vereinsleben, wie es an vielen Orten und besonders in vielen Städten immer seltener zumindest in dieser gelebten Qualität anzutreffen ist.
Die Fähre ist mittlerweile im Dunst des Meeres verschwunden, Thema bleibt sie dennoch. Ist das denn nicht das Besondere auf Norderney, dass man mit der Fähre zu seinen Auswärtsspielen anreist? „Ja und nein“, sagt Mareikje. "Natürlich ist das etwas Besonderes. Gleichzeitig ist es für uns aber auch ein Stück weit Normalität. Wir nehmen immer die Fähre, wenn wir zu Spielen fahren, geht ja nicht anders."
Gemeinsam gewinnen, gemeinsam verlieren, gemeinsam essen
Das mit den Fährfahrten zu den Auswärtsspielen war schon immer so, seit auf Norderney Handball gespielt wird. Und doch haben sich die Fahrten verändert, weiß Erik Fischer. Das Handball-Urgestein des TuS hat die berüchtigten Fahrten der ersten Männermannschaft von früher noch selbst mitgemacht. "Wir haben auf der Rückfahrt von Norddeich auf die Insel immer eine Kiste Rum weggemacht. Das war früher unser Ritual, das war Tradition!" Erik ist diesen Sommer "aus dem aktiven Dienst zurückgetreten", wie die Vereinszeitung "Flutlicht" berichtet.
Aber ohne Handball kann er natürlich auch nicht und ist weiter als Trainer der Jugend regelmäßig in der Halle. Die Jugend, das sind beim TuS stolze acht Jugendmannschaften. Und diese haben bereits ihr eigenes Ritual für die Fährüberfahrt: Buffet. Jeder bringt etwas mit, und auf der Rückfahrt wird gemeinsam eine Tafel aufgetischt und weggeputzt. "Das ist gut. Ob man gewonnen hat, oder verloren - danach gemeinsam zu essen und zu reflektieren, ist ein sehr gutes Ritual", so Erik. Günstiger und gesünder als der Rum ist es auch. Und insgesamt nur ein Bruchteil der horrenden Reisekosten, die der TuS Norderney Jahr für Jahr stemmen muss: 50.000 Euro. Ein Teil davon geht in die Kosten für die Fähre. Ein anderer in den Reisebus, der jede Mannschaft vom Fähranleger in Norddeich zu den Auswärtshallen und zurück bringt.
Wenn es in der Staffel einen Verein gibt, der zu allen Auswärtsspielen mit der Fähre anreisen muss, heißt das im Umkehrschluss aber auch: Alle anderen Vereine müssen einmal pro Saison mit der Fähre auch zum TuS Norderney kommen. Oder dürfen? "Manche genießen es, bleiben noch mit uns an der Halle und bauen sich manchmal sogar noch ein, zwei Urlaubstage hier auf der Insel rund um den Spieltermin. Andere mögen die Spiele gar nicht, die sind dann auch direkt wieder weg", sagt Mareijke.
"Handball ist das verbindende Element"
Wenn man sich die Spielerinnen der Damenmannschaft anschaut, mittlerweile ein paar hundert Meter nord-westlich vom Fährhafen, wird klar, was den Handball auf Norderney ausmacht. Sie alle sind nicht bloß eine Mannschaft - sie sind Freundinnen. Lara unterstreicht das noch einmal: "Wir verbringen unsere ganze Freizeit zusammen, der Handball ist das verbindende Element hier." Sagt sie und lässt den Blick entlang des Deiches schweifen, der weiter Richtung Norden in die Promenade übergeht, da, wo die Aussicht und die Immobilien gleichermaßen unbezahlbar sind.
"Work with a view", posten die Menschen, die hier mit Laptop in einem der Strandcafés arbeiten. Arbeiten mit Ausblick. Gleiches gilt auch für manche Trainingstage des TuS Norderney. Denn die Lauf- und Konditionseinheiten finden regelmäßig draußen statt. Läufe auf dem Deich, Treppenläufe den Deich runter und vor allem wieder hoch, ausgiebige Beach-Einheiten. Alles unheimlich anstrengend. Aber alles auch unheimlich schön, viel schöner als in der schönsten Sporthalle. Besonders am Nordstrand, dem Lieblingsstrand der meisten Norderneyer.
Vom TuS zum THW
In der Halle, zehn entspannte Rad-Minuten ins Inselinnere, trainiert jetzt die C-Jugend. Coach Mertens spricht vom "zweiten Zuhause". Für ihn, der als Sportlehrer eine halbe Stelle an der Gesamtschule Norderney und eine halbe Stelle am Gymnasium in Norddeich hat, nachvollziehbar. Aber auch die Kinder fühlen sich hier heimisch. So wie Phil, Georg und Jakob zum Beispiel, die komplett im Handballfieber sind. "Handball ist schneller als Fußball. Wir haben hier viel Spaß, viel Action und sind alle Freunde."
Das gilt wohl für die meisten der rund 100 Handballer, wenn nicht sogar der 1500 Vereinsmitglieder, die der TuS sportartübergreifend hat. Die Vorbilder der Jungs sind Knorr, Köster und - natürlich - Gidsel. Um einen weiteren Namen kommt man auf Norderney aber nicht herum, wenn es um Handball geht: Ole Rahmel. Er ist der bekannteste und erfolgreichste Handball-Export, den der TuS Norderney bislang hervorgebracht hat. Rahmel, der elf Jahre seiner Jugend für den TuS spielte und der es bis zum Meistertitel 2020 mit dem THW Kiel schaffte, schaut nach wie vor regelmäßig auf der Insel vorbei. Bei Freunden eben.
Ein Traum für 2029
Handball-Import Robin Mertens ist mittlerweile auch längst angekommen auf der Insel. Was ihn antreibt, so viel Zeit und Arbeit in die Jugendarbeit zu stecken? "Wenn ich ein Lächeln von den Kindern bekomme, wenn ich Teil ihrer Freude und Teil ihres Erfolgs bin. Das gibt mir wahnsinnig viel zurück." Und einen Traum hat er auch noch: einmal mit seinem Sohn Jakob zusammen zu spielen. Das könnte 2029 so weit sein, wenn der aktuelle C-Jugendliche in die Senioren geht. Dann wäre Robin 52. Bestes Handballer-Alter für einen Sportlehrer.
Bis dahin werden ziemlich sicher noch viele Fähren an- und abgelegt haben. Und Robin Mertens wird bis dahin ziemlich sicher noch hunderte von Trainings geleitet haben. "Wir können hier sportlich auf der Insel das Rad zwar nicht neu erfinden. Aber das müssen wir auch gar nicht." Alles ist gut so, wie es ist, auf der Handball-Insel Norderney. Das zeigt die Zufriedenheit, die die Handballer des TuS Norderney ausstrahlen. Und diesen Eindruck nimmt man als Gast auch wieder mit aufs Festland. Dann, wenn die Fähre wieder ablegt. Die Fähre, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten schon so manche Kiste Rum, manches Jugend-Buffet und jede Menge Handballer und Handballer-Geschichten miterlebt hat.
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Bock auf Handball - Ausgabe 20
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