Der jüngste Vorfall im deutschen Profifußball ereignete sich Anfang November bei der Partie zwischen 1860 München und Energie Cottbus, als der Gästespieler Justin Butler rassistisch beleidigt wurde. Auch in der 1. DFB-Pokal-Runde im Sommer war es zu einigen verbalen Entgleisungen gekommen. Aladin El-Mafaalani (47), Professor für Migrations- und Bildungssoziologie an der TU Dortmund, hat ein Buch dazu veröffentlicht: Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand. Mit dem kicker spricht er über Ursachen und Folgen zum Thema "Rassismus im Fußball".
Herr El-Mafaalani, wie traurig stimmt es Sie, dass wir im Jahr 2025 über Rassismus im Fußball reden müssen?
Darüber traurig zu sein, wäre für mich der falsche Modus. Rassismus ist sicher ein hartnäckiges Phänomen, aber es ist auch eine interessante Entwicklung zu beobachten.
Welche?
Rassismus hatte über Jahre hinweg eigentlich eher abgenommen, aber in letzter Zeit verstärkt er sich wieder.
Das liegt woran?
Es gibt Studien, die zeigen, dass sich die grundsätzliche Einstellung der Menschen in den vergangenen 20 bis 25 Jahren zwar nicht verbessert, aber auch nicht verschlechtert hat, sie bewegt sich also nicht in Richtung Rassismus. Die Gesellschaft wurde insgesamt offener und hat sich gegen rechte Tendenzen gestellt. In den letzten Jahren hat aber die rechtsextremistische Partei AfD immer mehr Stimmen bekommen, rassistische Äußerungen treten wieder häufiger auf, aber immer noch, ohne dass sich die Einstellung in der Bevölkerung messbar in diese Richtung verändert hat. Ich würde sagen, dass zuletzt die Radikalen radikaler werden, aber sie werden nicht mehr.
Wurden Sie selbst als Sohn syrischer Eltern mit Rassismus konfrontiert?
Meine Erfahrungen decken sich mit dem Forschungsstand. Denn ich habe sie eher in meiner Jugend in den 80er und 90er Jahren machen müssen. Seitdem kaum noch. Und genau das stellen wir ja eigentlich - bei allen Ausnahmen - auch in den Fußballstadien fest. Ich persönlich in Dortmund, auch da hat sich die Lage eher zum Guten entwickelt.
Bevor wir gleich konkret zum Fußball kommen - was führt zu Rassismus?
Wir bilden immer Kategorien, insbesondere nach Geschlecht, Hautton und Herkunft. Das ist noch kein Problem. Aber wenn man von diesen Merkmalen auf Ursachen für bestimmte Problemlagen schließt, dann bedeutet das entweder, dass man ausgeprägte Vorurteile hat oder dass man denkfaul ist. Wir Menschen übertreiben schon seit jeher das optisch Wahrnehmbare. Am Ende ist der Hautton nur eine Regulierung des Vitaminhaushalts über die Haut.
Rassismus gibt es seit Jahrhunderten, überall. Ist es naiv zu glauben, dass dieser gerade vor den Toren eines Stadions Halt machen sollte?
Ihr Hinweis auf die Vergangenheit ist wichtig, weil früher Rassismus in einigen Ländern sogar lange gesetzlich verankert, also gewollt war. Mittlerweile nicht mehr. Aber das Problem ist, dass ganz viele Menschen noch alle Vorurteile kennen und auch die Denkmuster, die dazu führten, während sie aber Wissenslücken in anderen Bereichen aufweisen.
Das bedeutet?
Dass alle, also auch die Vereine, dieses Problem bekämpfen müssen, buchstäblich am Ball bleiben sollten bei diesem Thema und nie davon ausgehen dürften, dass ihr Stadion davon nicht betroffen ist.
Im Sommer häuften sich im DFB-Pokal die Vorfälle. Beim Spiel der Schalker in Leipzig wurde Christopher Antwi-Adjei von der Tribüne aus mit dem "N-Wort" beleidigt. Was empfinden Sie da?
"Empfinden" tue ich dabei ehrlicherweise nichts, weil ich versuche, es analytisch zu sehen: Wie reagieren andere Zuschauer, der Verein, der Spieler? Wie wird berichtet? Sie werden kaum einen schwarzen Spieler finden, der so etwas noch nie erlebt hat. Man muss sich eher damit beschäftigen, wie auf Rassismus reagiert wird. Wenn man "falsch" reagiert, passiert es umso häufiger.
Das Spiel 1860 gegen Cottbus wurde neulich nur unterbrochen. Nicht abgebrochen. Ist das "falsch"?
Es geht am Ende um mehr als Rassismusbekämpfung. Ich will gar nicht sagen, wie letztlich wo entschieden werden sollte. Ich will nur, dass sich alle ausreichend Gedanken machen.
Sollten die Urteile bis hin zum Punktabzug oder Liga-Ausschluss gehen, um bei den Fans zumindest das Bewusstsein zu schärfen, von innen heraus gegen die Krakeeler vorzugehen, weil sie - sorry, wenn sich das hart anhört - wenn schon nicht alle das Opfer interessiert, zumindest Schaden von ihrem Verein abwenden wollen?
Alle müssen sich engagieren und permanent nachjustieren, von allen Seiten: Verbände, Vereine und Fans. Wenn die Anhänger selbst aktiv werden, hat das eine große Wirkung. Vielleicht noch mehr als Strafen im rechtlichen Sinn.
In Potsdam gab es in jener Pokalrunde gegen einen anderen Täter gerichtete "Nazis raus"-Rufe.
Das ist auf jeden Fall eine super Reaktion und wirksamer als Sanktionen eines Sportgerichts. Die Realität aber ist auch, dass viele Fans drum herum schweigen. Selber zu beleidigen ist schlimmer. Aber wenn man schweigt, bestärkt man natürlich diese Tendenz. Also muss eine zu diesem Thema mittlerweile immer stärker sensibilisierte Gesellschaft - auch in den Stadien - aktiv dagegen vorgehen, gegen Begriffe, gegen Stammtischparolen. Denn das Denken an sich hat sich leider nicht verändert. Auch das Rechtliche nicht. Dass wir zum Beispiel nur vom "N-Wort" sprechen, hat nichts damit zu tun, dass es verboten wurde.
Es hat auch etwas mit Anstand zu tun.
Das auch, zweifellos. Aber eben auch damit, dass die Gesellschaft von innen heraus gestärkt wird, wenn sie sich das quasi selbst verbietet.
„Wer sich rassistisch äußert, weiß in aller Regel, dass er eine Grenze überschreitet.“ (Aladin El-Mafaalani)
Ohne ein Klischee bedienen zu wollen, aber korrespondiert Rassismus nicht auch mit Bildung?
Das glaube ich schon, ja. Aber das ist nicht das einzige Problem. Wer sich rassistisch äußert, weiß in aller Regel, dass er eine Grenze überschreitet. Weil das bewusst passiert. Da fehlt es nicht an Wissen oder Problembewusstsein. Das sieht man daran, mit welchen Aussagen das gerechtfertigt wird, zum Beispiel mit: "Das haben wir immer so gesagt." Das hat nichts direkt mit Bildung zu tun. Sondern damit, dass man nicht höflich, sondern beleidigend sein will. Und wenn einem das in dem Fall egal ist, sind wir beim Kern rassistischen Denkens.
Allein in Ihrer Berufsbezeichnung "Professor für Migrations- und Bildungssoziologie" läuft vieles zusammen, was für die Bewertung des Themas wichtig ist. Was ist Ihr Lehr-Anspruch?
In Sachen Pädagogik sollte man nicht nur Vorurteile bekämpfen, sondern dafür sensibilisieren, dass man in Schulen, Kitas und Vereinen die Betroffenen im Blick hat. Junge Menschen können ohnmächtig werden, wenn sie diskriminiert, aber ihre Erfahrungen von den Erwachsenen ignoriert werden. Wir können nicht darauf warten, dass vielleicht in 50 oder 100 Jahren der Rassismus bekämpft wurde, sondern wir müssen die Betroffenen heute stärken. Auch im Profifußball. Mein Eindruck ist nicht so, dass das schon im großen Umfang gemacht wird. Man muss die Erfahrung der Betroffenen ernst nehmen, die Opfer in den Fokus rücken. Die Anzahl derer, die potenziell betroffen sein können, hat sich ja erhöht. Durch Migration und Internationalisierung. Also wird das Problem nicht kleiner. Unabhängig davon, dass das Denken vieler Menschen sich verbessert hat, dass es zum Beispiel weniger rassistische Trainer oder Lehrer gibt als früher.
Reichen dafür Kampagnen von früher wie "Mein Freund ist Ausländer" oder von heute "Rot gegen Rassismus" oder in England "Black lives matter" also nicht aus? Fehlt Ihnen da die Nachhaltigkeit, oder was kritisieren Sie genau?
Solche Kampagnen und Bewegungen sind ganz sicher sinnvoll. Aber sie dürfen nicht dazu führen, dass das Thema als "Projekt" angesehen wird. Häufig hat es die Funktion, dass die Akteure ein gutes Gefühl haben, weil sie über einen begrenzten Zeitraum etwas getan haben. So ist es auch mit dem Programm "Schule ohne Rassismus". Häufig bekommt man aufgrund eines ersten Engagements gegen Rassismus das Siegel, und danach passiert dann nichts mehr. Antirassismus ist kein kurzfristiges Projekt, sondern eine Daueraufgabe, die man mit der Gleichstellung von Frauen vergleichen kann.
Kinder interessiert nie, welche Hautfarbe ihr Spielkamerad oder ihr Teamkollege auf dem Fußballplatz gerade hat. In welchem Alter biegen die Menschen, die Jugendlichen falsch ab?
Die Studienlage zeigt, dass es bis zum Ende der Grundschule tatsächlich nur in Ausnahmefällen rassistische Denkmuster gibt. Ab dem Teenager-Alter weitet sich das aus, erst durch das Kennen, dann durch das Nutzen der Vorurteile. Da geht’s um wachsende Konkurrenz. Auch im Fußball. Da werden Schwächen beim anderen gesucht und ausgenutzt, auch in den Stadien natürlich. Da sind wir bei Mobbing im Allgemeinen und auch Rassismus im Speziellen.
Rassismus kann ja schon bei der Begrifflichkeit beginnen. Im Englischen sagt man "black and white". Sie sprachen von "schwarzen Spielern", andere sagen lieber "dunkelhäutig", um das zu umgehen. Wie kann man das Ganze auf dieser Ebene entkrampfen?
Da gibt es kein objektives Richtig und Falsch. Wenn man von der Hautfarbe spricht, geht’s um Braun- und Hauttöne in allen Facetten. Niemand ist "weiß" oder "schwarz". Aber dass sich diese Begriffe etabliert haben, liegt daran, weil nichts richtig ist und sich die Unterschiede überspitzt eben in diesen historisch etablierten Beschreibungen darstellen lassen.
Und dabei sind diese Unterschiede eigentlich völlig egal, überall, aber gerade im Fußball, der verbinden sollte.
Genau. Aber es hat historische Tradition, die sich heute noch ausdrückt. Und wir sind visuelle Wesen, was wir sehen können, machen wir zu einem übermäßig großen Thema.
Ein anderer Fall aus der 1. Pokalrunde: Der Essener Kelsey Owusu wurde nach seinem Foul gegen Dortmunds Yan Couto vor allem im Internet schlimm rassistisch beleidigt. Ist das noch niederträchtiger, aus der feigen Anonymität heraus zu agieren, gegen die sich der Betroffene nicht direkt wehren kann?
Das kann man so sehen. Es ist schon signifikant, dass sich das Problem online mehr ballt und skrupelloser darstellt, sodass es schlimmer wirken kann. In der digitalen Welt treffen sich quasi mehr Gleichgesinnte als in den meisten Stadien.
An ebenjenem Hass im Internet wären die drei englischen Nationalspieler Jadon Sancho, Marcus Rashford und Bukayo Saka nach ihren vergebenen Elfmetern im EM-Finale 2021 fast zerbrochen. Kann man sich als Nicht-Betroffener gar nicht richtig in sie hineinversetzen und sollte sich sogar gut gemeinte Ratschläge ersparen?
Viele können nicht wirklich mit ihnen fühlen, richtig. Das größte Problem heute ist, dass Menschen, die eine Schwäche zeigen - wie zum Beispiel einen Elfmeter zu verschießen -, kollektiv aufgrund ihrer Hautfarbe attackiert und zur Rechenschaft gezogen werden.
Was wider jede Logik ist.
Richtig. Einen weißen Spieler hätte man nach einem Elfmeter-Fehlschuss sicherlich nicht wegen seiner Hautfarbe beschimpft.
Und wie kann man dann bei diesem Trio auf den schrägen Gedanken kommen? Da kann man doch nur dumm sein.
Nein, das ist nicht nur Dummheit, sondern viele müssen sich kontrollieren, nicht ständig irgendwelche Vorurteile rauszuposaunen, wenn diese sich vermeintlich bestätigt haben. Immer dann, wenn sich Menschen nicht kontrollieren können, etwa weil sie emotional sind oder betrunken, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass rassistische Vorurteile zum Vorschein kommen. Genau das meine ich mit "historisch gewachsen". Als ich damals gesehen habe, dass diese drei Spieler verschossen haben, war mir klar, dass leider genau das passieren wird.
Wir haben über Vorfälle in München, in Essen, im Osten Deutschlands, in England gesprochen. Wie kriegt man aus den Köpfen, dass Rassismus kein regionales Phänomen ist?
Es liegt auf der Hand, dass es kein regionales Phänomen ist. Es gibt zwar regionale Schwerpunkte - in ländlichen Gebieten ist das Problem zum Beispiel ausgeprägter als in Großstädten, im Osten ist es ausgeprägter als im Westen - aber im Prinzip gilt: Je mehr Migration vor Ort erlebbar ist, desto kleiner sind die rassistischen Denkmuster. Zumindest gibt es diese Korrelation. Auch dazu gibt es zahlreiche Studien.
„Diese Aussage des Kanzlers ist natürlich ein Problem.“ (Aladin El-Mafaalani)
Inwieweit aber erschwert die "Stadtbild"-Aussage von Bundeskanzler Friedrich Merz den Befriedungsprozess, auch in Fußballstadien?
Diese Aussage des Kanzlers ist natürlich ein Problem, weil viele sie so interpretieren, mit optischen Reizen etwas erklären zu können. Wenn also quasi an höchster Stelle vorgelebt wird, dass man etwas sagen kann, was 20 Jahre lang nicht passend erschien, motiviert dies auch Rassisten, gerade an Schauplätzen wie Fußballstadien, sich wieder vermehrt zu Wort zu melden.